Eine in den Therapien oft gestellte Frage lautet: Soll ich den Kontakt zu meinen Eltern abbrechen oder ist es besser, ihnen zu verzeihen und mich mit ihnen auszusöhnen? Dazu folgende Erkenntnisse von mir:

1. Warum vernachlässigen, schlagen, demütigen, ignorieren, missverstehen oder misshandeln Eltern ihre Kinder? Weil sie in 99% aller Fälle selbst schon das Gleiche mit ihren Eltern erlebt haben.

2. Warum ist das so weit verbreitet? Weil die meisten Gesellschaften weltweit partriarchale Gesellschaften sind, in denen liebevolle Mütterlichkeit und herzliche Väterlichkeit nichts zählen im Vergleich zu materiellem Besitz, Geld, Macht- und Konkurrenzstreben und der Illusion ideologisch verklärter Leistungen und Erfolge. Dadurch werden Menschen aller Alterstufen weltweit systematisch traumatisiert und das schon vor, während und nach ihrer Geburt und so zu Objekten von Wahnideen und Überlebensstrategien ihrer Mütter und Väter gemacht.

3. Warum erwarten traumatisierte Eltern von ihren Kindern trotzdem Dankbarkeit und lebenslange, über den Tod hinausreichende Loyalität? Weil unter diesen Umständen ihre Kinder für sie Trauma-Überlebensstrategien darstellen: als Mittel zum Zweck, als Sinnstiftung, als Ablenkung, als Projektionsfläche, als Container für ihre unverdauten Traumagefühle, als vermeintliche Ersatzeltern usw.

4. Warum können sich traumatisierte Kinder nur schwer von ihren traumatisierten Eltern lösen? Weil ihre kindlichen Anteile im Geheimen noch immer hoffen, eines Tages doch ans Ziel ihrer Kontaktwünsche zu gelangen und von den Eltern gesehen und geliebt zu werden. Weil traumatisierten Menschen, selbst wenn sie körperlich erwachsen sind, in ihrer Psyche noch über kein erwachsenes gesundes Ich und keinen eigenen Willen verfügen, an die sich die ignorierten und abgespaltenen kindlichen Bedürfnisse nach Liebe, Körperkontakt und echten Gefühlen wenden könnten. Weil die Einsicht, von den eigenen Eltern nicht gewollt zu sein, und möglicherweise sogar Abtreibungs- und Tötungsversuche überlebt zu haben, viel zu schmerzhaft für eine Kinderpsyche ist.

5. Was ist daher zu tun? Sich die schmerzlichen Verletzungen durch die eigenen Eltern eingestehen, mit sich selbst mitfühlen, die unterdrückten Ängste, die Wut, die Trauer und vor allem den Schmerz zulassen, der in der Beziehung mit den traumatisierten Eltern keinen Platz hat und auch keinen haben wird, insbesondere solange diese nicht an ihren eigenen Traumata arbeiten. Ohnehin ist es ja schon zu spät. Die Kindheit und die damit verbundenen Verletzungen können de facto nicht ungeschehen gemacht sondern nur realisiert und gefühlt werden.

6. Ist es dann möglich, mit den Eltern (wieder) Kontakt zu haben? Das kann dann jeder selbst beantworten, sobald er den Referenzpunkt in sich selbst hat, ob er das will und ob ihm das etwas gibt. Vielleicht ist es auch nur furchtbar langweilig, mit Menschen Zeit zu verbringen, die nicht bei sich und deshalb ständig in ihrer Überlebensstrategien unterwegs sind und dabei beständig versuchen, einen in diese hineinzuziehen. Möglicherweise gibt es ja Erfreulicheres, die wertvolle eigene Lebenszeit zu genießen als darauf zu hoffen, von jemandem gesehen und verstanden zu werden, der das nicht kann.

Ich habe es diese Tage beim Tod und der Beerdigung meiner Mutter hautnah erfahren, wie wichtig es für mich ist, den Schmerz aus der eigenen Kindheit nicht zu unterdrücken und zu fühlen, dass es keine liebevolle Mutter gab, die für einen da war. Indem ich diesen Schmerz und auch die Wut darüber zum Ausdruck bringe, komme ich wieder ein Stück mehr in meinem Körper und damit bei mir selbst an. Andernfalls verleiten diese abgespaltenen Gefühle zur Inszenierung von Liebesillusionen angesichts des Todes der Mutter und zur Weitergabe der eigenen Verletzungen an andere, die dar nichts dafür können.

Ich erlebe es oft, dass Menschen nach dem Tod ihrer Eltern meinen, sie hätten sich auf einer höheren Ebene nun ausgesöhnt und das Problem damit gelöst. Nach meinen Erfahrungen tragen solche rein gedanklichen, z.T. spirituell begründeten "Lösungen" jedoch nichts dazu bei, die weiterhin mit der Mutter- und Vaterbindung bestehenden emotionalen Probleme aufzulösen. Sie vertiefen die psychischen Spaltungen in einem Menschen sogar noch weiter. Solche spirituellen = geistigen Pfade gehen der Realität des eigenen Schmerzes, der eigenen Ängste und der eigenen Wut- und Hassgefühle aus dem Weg.

Ich empfehle also keineswegs den Kontaktabbruch mit den eigenen Eltern, wie mir zuweilen unterstellt wird. Ich verurteile und verdamme ihn nur nicht, wie das auch von manchen Psychotherapeuten-KollegInnen getan wird. Was ich empfehle, ist die Intensivierung des emotionalen Kontakts mit sich selbst. Das kann über die Anliegenmethode sehr gut getan werden.

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Prof. Dr. Franz Ruppert

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